Als Mittfünfziger sieht Johannes Brahms auf Fotos mit langem grauen Bart und zerfurchtem Gesicht bereits aus wie ein Greis. Und so fühlte er sich wohl auch. Dieses recht traurige Umstand kommt dadurch zum Ausdruck, dass er das Komponieren mehr oder weniger eingestellt hatte. Fünf Jahre später hatte er dann doch noch einige Kompositionen nachgeschoben, nämlich vier Gruppen von Stücken für Klavier solo: Sieben Fantasien op. 116, Drei Intermezzi op. 117, Sechs Stücke für op. 118 und Vier Stücke für op. 119. Diese späten Werke von Brahms zeigen fern jeder Monumentalität nicht nur die schönsten und reifsten Aspekte seines Schaffens, vielmehr sind auch überraschend experimentell. Während seine früheren Werke wie die drei Klaviersonaten durch ihre schiere Größe auffallen, sind op. 116-119 im Vergleich dazu Miniaturen. Das Gewicht dieser Charakterstücke liegt jedoch in ihrem Tiefgang - und das kann für jeden Pianisten eine ultimative Prüfung seiner Musikalität darstellen.
Paul Lewis, einstiger Meisterschüler von Alfred Brendel, ist kein Pianist, der in seinem Klavierspiel die Extreme sucht. Seine ausgeglichene Spielweiseglänz dafür mit subtil aufgespannter Farbigkeit, Aufrichtigkeit und Intimität des Ausdrucks. Tiefgang ist seine Sache bei den späten Klavierwerken von Brahms, die er mit warmem Ton sorgfältig und überzeugend ausleuchtet.
Opus 116 beginnt mit dem Capriccio in d-Moll, das unter den Händen von Paul Lewis zu einem fulminanten Auftakt wird mit gemessenem Tempo und unverrückt standhaftem Legato. Das Intermezzo in a-Moll realisiert er mit langen Melodielinien und der A-Dur-Abschnitt ertönt unter zarter Helligkeit. Das Intermezzos in e-Moll meistert Lewis, der Anweisung von Brahms folgend "mit Anmut und innigem Gefühl". Das A-Dur-Intermezzo von Opus 118 erfährt eine elegante Darstellung fern jeglicher Rührseligkeit, die bei oberflächlicher Betrachtung mitkomponiert zu sein scheint. Das Intermezzo in Es-Dur mit dem mitkomponierten Dies Irae ist eines der markantesten späten Klavierstücke von Brahms. Paul Lewis versteht sich darauf, den klagenden Charakter des Stücks unter Beachtung seiner Komplexität angemessen geheimnisvoll darzustellen. Ein Beispiel für den Minimalismus, mit dem Brahms in seinen späten Klavierwerken experimentiert ist das h-Moll-Intermezzo des Opus 119. Den fragilen Aufbau dieses Klavierstücks demonstriert Lewis überzeugend mit einer raffinierten Pedaltechnik. Ein weiteres Beispiel für den Minimalismus eines Johannes Brahms findet sich in der Es-Dur Rhapsodie von Opus 119, dessen symphonischer Charakter der britische Pianist wirkungsvoll zum Klingen bringt.
Die Tontechniker leisteten für dieses Album ganze Arbeit. Das Klangspektrum des großen Flügels, auf dem Paul Lewis die späten Klavierwerke von Brahm interpretiert hat ist durchgehend ausgeglichen eingefangen. Dieses Brahms-Album nimmt unter der relativ großen Anzahl an Konkurrenzaufnahmen durch seine ausgeglichene Interpretation und seine gelungene Aufnahmetechnik eine Spitzenposition ein.
Paul Lewis, Klavier