Eine relativ spät in Erscheinung getretene Abart des Hi-Fi-Liebhabers, der sogenannte High-Ender investiert in der Regel einige zig-tausend Euro für sein audiophiles Vergnügen. Warum auch nicht? Wer kann der kann. Böse Menschen sagen dieser „gehobenen“ Klasse von Hi-Fi-Geräte-Besitzern gerne nach, dass sie ausgesprochen zurückhaltend sind in der Anzahl und dem künstlerischen Wert der Aufnahmen, die es auf oder in den edlen Player ihrer Anlage schaffen, der den Eingang zum audiophilen Hörvergnügen bildet. Seit einiger Zeit stehen dabei ganz oben auf der Hitliste Sängerinnen aus dem skandinavischen Kulturkreis, vor allem Norwegerinnen. Warum das so ist, ist nicht abschließend geklärt. Jedenfalls spürt der eingefleischte High-Ender gerne genussvoll beim Singen anfallende Nebengeräusche auf, wie das Ein- und Ausatmen, die Erzeugung von Zisch- und T-Lauten und das zarte Verklingen der Stimme, also Ereignisse, die auf eine ausgeklügelte Mikrophon- und sonstige Aufnahmetechnik schließen lassen. Tatsächlich bildet eine exquisite Aufnahmetechnik einen guten Teil der Attraktion von Produktionen mit skandinavischen Sängerinnen. Ein weiterer Teil der Attraktion ist auf der vorwiegend norwegischen Sprache der Sängerin zu verdanken, die von südlicher lebenden Zeitgenossen immer noch als recht exotisch empfunden wird, oder sagen wir besser an wilde Berge, riesige Gletscher und tief eingeschnittene Fjorde erinnert. Und ja: diese Norwegerinnen können auf hohem künstlerischen singen. Damit spannen Alben mit ihnen für den in Sachen künstlerischem Wert nicht verwöhnten High-Ender eine neue Dimension auf.
Anette Askvik erfüllt mit Ihrer eigenartigen, zumeist sanften, aber dessen ungeachtet nachdrücklichen geführten Stimme und ihrem hochklassigen Gesang voll diese Sehnsucht nach Bergen, Gletschern und Fjorden, so dass ihr bereits zehn Jahre altes Debut-Album Liberty nicht nur von High-Endern immer noch gefragt ist. Zwischenzeitlich ist das Album auch als hochaufgelöster Download und dem aktuellen Trend zur nostalgischen Schallplatte folgend als Doppel-LP zu haben. Auch dieses Album brilliert mit der sprichwörtlich hervorragenden Aufnahmetechnik skandinavischer Studios. Die Verbindung von kompetentem Gesang und hervorragender Aufnahmetechnik hebt das Album Liberty auch Jahre nach seiner Erstauflage weit über den Durchschnitt der nicht-skandinavischen Konkurrenz hinaus.
Das Beimischen in ihrem Alltag selbst aufgenommener Soundkollagen in ihre Songs ist für Anette Askvik eine typische Art, sich ihre Songs mit einer Art Stempel zu eigen zu machen. Ein Beispiel dafür ist der Song „April“ mit dem die Sängerin das Nahen des Frühlings nach langen Winternächten ihrer Heimat fröhlich feiert. Im Titelsong hinterfragt Anette Askvik zwischen wie Ausrufezeichen den Song strukturierenden Saxophon-Einwürfen aktuellen Zustand unserer von der Demokratie gebotenen höchsten Freiheitsgüter. Sämtliche Songs entfalten eine kraftvolle Sogwirkung, der man als Zuhörer nicht entkommen kann und auch gar nicht will.
Obwohl Anette Askvik mit Liberty ein nicht gerade taufrisches, dafür aber ein an die neueste hochaufgelöste Digitaltechnik gekonnt adaptiertes Album präsentiert, hat es nicht zuletzt dank hochgradig künstlerischem Wert auch heute noch seine Berechtigung neben dem zwischenzeitlich entstandenen zweiten Album Multiverse und dem demnächst erscheinenden dritten Album. Es lebe die norwegische Gesangskunst und deren Intertretinnen, in deren Kreis Anette Askvik einen prominenten Platz einnimmt. Nicht nur High-Ender wissen das zu schätzen.
Anette Askvik