Diese Sinfonie ist ein wahrhaft bizarres Gebilde. Allemal eher eine sinfonische Dichtung als eine Sinfonie im klassischen Sinne ist sie angetrieben vom Geist eines Hector Berlioz, dessen ziemlich krasse Vertonung der Lord Byron Dichtung „Harold in Italien“ Tschaikowski kompositorisch auf die Spitze treibt. Als Vorlage diente Tschaikowski eine weitere Dichtung von Lord Byron, nämlich dessen „Manfred“, die dem „Harold“ an verwegener Handlung in nichts nachsteht. In seinen wildesten Phasen, in denen die Komposition recht nahe am Irrsinn dahintobt, bekommt man Angst um den Geisteszustand Tschaikowskis. Brutalere Ausbrüche frei strömender Emotion findet man in keinem musikalischen Werk der Romantik und Spätromantik, ja nicht einmal bei Gustav Mahler und schon gar nicht bei Robert Schumann, der sich der Dichtung „Manfred“ bereits vor Tschaikowski angenommen hatte. In bester Berlioz-Manier kontrastiert Tschaikowski in seinem “Manfred“ wilde Ausbrüche mit sanften Passagen, mit traumhaft schönen, farbig instrumentierten Melodien. Frustriert vom mäßigen Erfolg seiner in gerade einmal sechs Monaten, in denen er parallel an einer Oper gearbeitet hat, unter dem Einsatz von viel Herzblut entstandenen Komposition verfiel er in eine veritable Depression und war kurz davor, die Noten zu vernichten.
„Manfred“ ist bis heute im Vergleich zu den sechs „echten“ Sinfonien Tschaikowskis keine Renner, was sich auch in einer relativ geringen Anzahl an Aufnahmen niederschlägt, von denen die Aufnahme unter Toscanini wegen ihrer gestrafften, geistig voll durchdrungenen, die Abgründe der Komposition auskostenden Interpretation eine Sonderstellung in der Manfred-Diskografie einnimmt, die bislang unerreicht ist, abgesehen vom Stereosound, den heutige Aufnahmen Toscaninis Produktion aus der Mono-Ära voraus haben. So natürlich auch die neueste Aufnahme mit der Tschechischen Philharmonie, einem der ganz wenigen Orchester, die bis heute den eigenen „böhmischen“ Sound dem ansonsten weitgehend globalisierten Orchester-Sound vorziehen. Semyon Bychkov legt hier das zweite Album eines Zyklus mit sämtlichen Sinfonien Tschaikowskis vor, den er mit dem tschechischen Eliteorchester zusammen mit Klavierkonzerten und ausgewählten Orchesterstücken Tschaikowskis im Prager Rudolfinum einspielt. Das heißt also, dass er „Manfred“ den sechs „echten“ Sinfonien als siebte zuschlägt.
Unter Bychkov wird deutlich, dass „Manfred“ eigentlich eine Oper ohne Worte voller dramatischer Ereignisse ist, die eine enorme Spannung erzeugt, die mit starken Emotionen ordentlich an den Nerven des Zuhörers zerrt, und deren Handlung es, typisch Oper, mitunter an Glaubwürdigkeit fehlt. Nur einem opernerprobten Dirigenten wie Semyon Bychkov kann es gelingen, das turbulente Treiben in „Manfred“ in Bahnen zu leiten, die nicht im Chaos enden. Dass dabei kulinarischer Sound nicht zu kurz kommt, dafür sorgen die um ihr Leben spielenden Tschechischen Philharmoniker mit ihrem herrlich idiomatisch tönenden Bläserensemble, das auch bei extremer Lautstärke niemals grob klingt, und dessen Holzbläser in „Manfred“ zur Höchstleistung auflaufen. Dieses Album ist bestens geeignet, den schlechten Ruf, der diesem Tschaikowski-Werk anhaftet, nachhaltig zu entkräften. Unter den Stereo-Produktionen nimmt dieser „Manfred“ eine Spitzenstellung ein, an der die Decca-Aufnahmetechnik keinen geringen Anteil hat.
Czech Philharmonic Orchestra
Semyon Bychkov, Dirigent