Sein Leben lang suchte Leonard Bernstein, der am 25. August 2018 100 Jahre alt geworden wäre, Anerkennung als Komponist „klassischer Musik“. Es genügte ihm nicht, als der geniale Schöpfer des amerikanischen Musicals, als erster USA-stämmiger Weltklasse-Dirigent, als begnadeter Pianist und Musikpädagoge zu gelten, der nicht nur Kinder, sondern alle Altersgruppen von Hörern massenhaft für klassische Musik begeistern konnte, nein, als Komponist „seriöser“ Musik wollte er in die Annalen der Musik eingehen. Tragischerweise gelang ihm, dem Komponisten von drei Sinfonien das bis heute nicht wirklich. Dabei begann seine Karriere als Komponist vielversprechend mit der Uraufführung seiner 1942 fertiggestellten ersten, der Jeremia-Sinfonie als zweiter Paukenschlag, kurz nach dem ersten Paukenschlag, als er 1944 für Bruno Walter bei einem USA-weit übertragenen Konzert des New York Philharmonic Orchestra kurzfristig und sensationell erfolgreich einsprang. Danach überschlugen sich die Ereignisse mit Schlag auf Schlag aufeinanderfolgenden Broadway-Erfolgen seiner Tanzstücke und Musicals, der Übernahme der New Yorker Philharmoniker als Chefdirigent und später einer zeitlich dichten, ja hektischen Weltkarriere als Gastdirgent, die ihn bis zum Lebensende auslastete. Zeit zum Komponieren, und schon gar von klassischer Musik blieb Bernstein kaum. Bereits die 1949 erstmals aufgeführte zweite Sinfonie fiel in hektische Vorbereitungen für Broadwayproduktionen. Nicht viel besser ging es der zwischen 1961 und 1963 entstandenen 3. Sinfonie. Daran änderte auch eine hin und wieder eingelegte Auszeit vom Dirigieren nicht wirklich etwas, zumal es galt, außer Klassischem weiterhin sogenannte leichtere Musik zu schaffen. Tragisch für ein Genie vom Schlage Leonard Bernsteins, der sich ein Leben lang primär als Komponist sah.
In der ersten, der Jeremia-Sinfonie sind Echos der Synagogenmusik verarbeitet, mit der Bernstein als Sohn eines strenggläubigen Vaters aufwuchs, der übrigens gar nicht begeistert war von den Musiker-Plänen seines Sohns, die er erst nach dessen Sensationserfolg bei der New Yorker Philharmoikern zähneknirschend akzeptierte, woraufhin ihn ihm dieser als Dankbarkeit die Jeremia-Sinfonie widmete. Im Umfeld der in der ersten Sinfonie gespiegelten Synagogentradition darf als revolutionär gelten, dass Jeremia-Zitate von einer Frau, einem Mezzosopran gesungen werden – ein No-Go im Rahmen der jüdischen Tradition. Die The Age of Anxiety betitelte und von einem Gedicht W.H. Audens inspirierte zweite Sinfonie „spielt“ in der Nachkriegszeit im Milieu einer New Yorker Bar, in der sich vier einsame Menschen treffen und später in der Wohnung des Mädchens schon recht alkoholisiert gemeinsam an der Weltlage verzweifeln. Ein Klavier spielt die führende Rolle in der Sinfonie, deren letzter Teil als fieberhafter Bebop-Jazz Traum vorbeizieht, bevor im Epilog eine Brücke zu Bernsteins vom Glauben geprägten Wurzeln geschlagen wird: „Was übrig bleibt, wie sich herausgestellt hat, ist der Glaube“. Um den geht es auch in der dritten, der Kaddisch-Sinfonie, in der sich ein Sprecher hoch dramatisch mit dem Glauben an sich auseinandersetzt. Auffallendes kompositorisches Stilmittel ist die in weiten Teilen der Sinfonie zum Einsatz kommende Zwölftonmusik, die als Ausdruck der Angst eingesetzt und letztendlich durch tonale Musik als Zeichen dafür ersetzt wird, dass die Angst überwindbar ist.
Von allen drei Symphonien existieren verschiedene Aufnahmen, unter anderem mit Bernstein selbst und einigen seiner Schüler. In dieser illustren Gesellschaft schlägt sich die neue Aufnahme mit dem römischen Orchester dell'Accademia Nazionale di Santa Cecilia unter ihrem langjährigen Chefdirigenten Antonio Pappano souverän durch einen in sich geschlossenem Ansatz, nämlich durch ein extrem leidenschaftliches, wildes und detailverliebtes, kurzweiliges, lebensbejahendes Musizieren, was auch voll auf die Solisten und den Chor zutrifft. Mit ihrer Interpretation der Bernstein-Symphonie erzeugen diese Musiker einen Sog, der den Zuhörer unweigerlich in die Handlung hineinzieht und das Verständnis dieser Symphonien auf emotionaler Ebene enorm erleichtert.
Eine kurze, aber volle Dröhnung leichten Bernsteins kann man sich am Ende dieses Downloads in Form der von Benny Goodman inspirierten kurzen Stücke Prelude, Fugue und Riffs für die Jazz-Combo abholen. Atemberaubend.
Nadine Serra, Sopran
Marie-Nicole Lemieux, Mezzosopran
Beatrice Rana, Klavier
Dame Josephine Barstow, Sprecher
Alessandro Carbonare, Klarinette
Orchestra dell’Accademia Nazionale Di Santa Cecilia
Sir Antonio Pappano, Dirigent