Das ursprünglich als Messe, genauer als Totenmesse konzipierte Requiem hat sich im Laufe der Zeit spätestens mit Hector Berlioz von der Bindung an die kirchliche Liturgie emanzipiert. Die Requiem-Kompositionen nach Berlioz, etwa von Brahms, Verdi und Britten sind denn auch klar für den Konzertsaal geschrieben. Für die liturgiefremde Nutzung der Totenmesse ist auch das Requiem des armenischen Komponisten Tigran Mansurian bestimmt. Ebenso wie das Requiem von Berlioz und von Britten ist das Requiem von Mansurian einem ganz bestimmten Ereignis gewidmet, nämlich den Opfern des Völkermords an den Armeniern während des ersten Weltkriegs, bei dem der Komponist selbst einen Teil seiner Familie verlor.
Mit dem traditionellen, liturgienahen Requiem, wie es etwa von Mozart überliefert ist, hat das Requiem von Mansurian lediglich den ursprünglichen, lateinischen Text gemeinsam. Ansonsten ist die Komposition des Armeniers den Quellen traditioneller Kirchenmusik so fern wie irgend denkbar. Stattdessen ließ sich Mansurian von der armenischen Volksmusik, vor allem von deren eigentümlichen Ausdruck inspirieren, der sich im einleitenden Requiem aeternam unter Nutzung modernistischer und minimalistischer kompositorischer Aspekte als Todesmarsch der Armenier gen Syrien spiegelt, der im Cover des Albums fotografisch dokumentiert ist. Bereits das darauffolgende Kyrie mit seinen synkopierten Rhythmen verweist darauf, dass dieses Requiem nicht nur als Klagegesang konzipiert ist, sondern vielmehr auch eine Spur Hoffnung transportiert.
Das Dies irae zerstört alle kurz aufkeimende Hoffnung brutal ähnlich Berlioz oder Verdi, jedoch fern opernhafter Attitüde. Das Tuba mirum, das die heftige Gangart des Dies irae kurz aufgreift, gibt sich mit ruhigerem a capella Gesang versöhnlicher. Den wohl stärksten Eindruck hinterlässt, ganz wie bei etwa bei Mozart, das gemessen dahinschreitende, zärtlich leuchtende und dazu kontrastierend hart gemeißelte Lacrimosa. Beinahe so intensiv wie das Dies irae trifft den Hörer das Domine Jesu Christe. Bevor dieses Requiem mit einem friedvollen Agnus zum ruhigen Fluss des Requiem aeterna zurückkehrt, rufen die Tenöre des Chors herzergreifend den ganzen Schmerz der Menschheit angesichts des Verbrechens an den Armeniern zum Himmel hinauf, bevor Sopran und Alt ansetzen, diese Weltuntergangsstimmung zu mildern.
Ohne jemals ins Opernhafte auszuufern oder den Zuhörer mit seiner Trauerstimmung hoffnungslos und ungebührlich zu belasten, ist Tigran Mansurian eine ergreifende Requiem-Komposition gelungen, die über den Tag hinaus auf der Stufe gelungener Totenmessen der Vergangenheit Gültigkeit behalten wird.
Entstanden ist die Ersteinspielung des Requiems von Tigran Mansurian in der Jesus-Christus-Kirche in Dahlem, Berlin, deren durch große Klarheit und moderaten Nachhall gekennzeichnete Akustik von Tontechnikern seit Jahrzehnten als geradezu ideal geschätzt wird, so auch von den Tonmeistern Peter Laenger und Stephan Schellmann, die für dieses Album eine Raumklangkulisse aufgespannt haben, die selbst für das als stets klanglich superb geschätzte Label ECM einen Höhepunkt markiert, der in Gestalt des hochaufgelösten Downloads den Sound ab CD mühelos toppt. Auch in Hinblick auf die künstlerische Leistung sämtlicher ausführender Musiker ist im Falle dieses Albums jeder Superlativ angemessen. Das trifft auf den in allen Stimmlagen herrlich ausgewogenen, virtuosen, exzellenten RIAS Kammerchor Berlin ebenso zu wie auf das formidable Münchener Kammerorchester unter Leitung seines damaligen Chefdirigenten Alexander Liebreich. Chor und Orchester hatten das Requiem bei Tigran Mansurian in Auftrag gegeben und 2011 im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie im Kontrast zu Mozarts Requiem uraufgeführt. Ganz hervorragend besetzt sind auch die beiden Solistenpositionen Anja Petersen, Sopran und Andrew Redmond, Bariton auf dem vorliegenden Album. Nicht als Ausführender, aber als kritischer und konstruktiver Geist, der sich mit dem Dirigenten und musikalischen Leiter Alexander Liebreich während der gesamten Aufnahmesitzung ausgetauscht hat, ist der Komponist Tigran Mansurian selbst zu nennen. Damit darf diese Interpretation des Requiems in dem Sinne als authentisch bezeichnet werden, in dem seinerzeit Karl Orff den Aufnahmesitzungen seiner Werke mit Eugen Jochum durch persönliche Anwesenheit Authentizität verliehen hat.
Anja Petersen, Sopran
Andrew Redmond, Bass
RIAS Kammerchor
Münchener Kammerorchester
Alexander Liebreich, Dirigent