Tschaikowski hat seine 6. Sinfonie, die sogenannte Pathétique, als sein wichtigstes Werk bezeichnet. Ihr liegt ein Programm zugrunde, das sich vom durch Schwung, Zuversicht und Tatendrang bestimmten ersten Satz bis zum Tod im Verlauf des letzten Satzes erstreckt und damit den menschlichen Lebenszyklus sinfonisch nachbildet. Während die vom Komponisten kurz vor seinem Tod in Sankt Petersburg geleitete Uraufführung beinahe zum Desaster geriet, stellte sich die Pathétique in späteren Jahren bis heute als Erfolgsgeschichte heraus. Unzählige Aufnahmen künden hiervon. Nahezu alle Dirigenten von Weltruf haben ihren akustischen Fingerabdruck des zutiefst die russische Seele spiegelnden Werks hinterlassen. Zu berichten ist von den unterschiedlichsten Ansätzen, das Anliegen der Sinfonie zu vermitteln, vom feurigen Impetus eines Sergei Kussevizki und Willem Mengelberg über die von Arturo Toscanini durch eine eher nüchterne Sichtweise konterkarierte romantische Herangehensweise eines Wilhelm Furtwängler bis zur nicht weniger überzeugenden, sachlichen Darlegung der Sinfonie durch Evgeny Mrawinski. Sämtliche dieser nachhörbar faszinierenden Interpretationen beziehen ihre Kraft aus dem Orchestern mitunter diktatorisch vermittelten Willen starker Dirigentenpersönlichkeiten.
In diese Phalanx längst verstorbener starker Dirigentenpersönlichkeiten reiht sich der 45-jährige Teodor Currenzis griechisch-russischer Abstammung ein. Seine zumeist extremen interpretatorischen Vorstellungen realisiert er durch penible Probenarbeit, die nahezu keine zeitlichen Grenzen kennt und auch weit in die Nacht hineinreichen kann, wenn das angestrebte Ziel anders nicht zu erreichen ist. In Gestalt des von ihm aus Profis und Studenten der russischen Musikszene gegründeten Ensembles MusicAeterna – nicht zu verwechseln mit dem bereits 1973 gegründeten Ensemble Musica Aeterna – steht ihm für seine Probenexzesse ein an historischer Spielweise geschultes williges Instrument zur Verfügung, das dem Extremen aufgeschlossen gleichgesinnt nach musikalischer Perfektion strebt. Erste Aufnahmen und Konzertauftritte in der westlichen Hemisphäre, MusicAeterna ist im sibirischen Perm ansässige angesiedelt, zeugen von der extremen bis extremistischen Musizierhaltung sowie dem ungewöhnlichen Musikverständnis eines Teodor Currenzis. Man darf gespannt sein, wie sich die Probenversessenheit dieses Dirigenten mit dem SWR Sinfonieorchester, dessen designierter Chefdirigent er ist, verträgt, also mit einem Ensemble des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, das im Korsett fester Probenzeiten steckt, das erst kürzlich aus der Fusion zweiter Traditionsorchester mit komplett unterschiedlicher Musizierhaltung hervorgegangen ist, und das bislang vergeblich um einen eigenen Stil ringt.
Dem Extremisten Teodor Currenzis und seinen Musikern gelingt eine höchst beglückende, von Anfang bis Ende überaus spannende Interpretation der Pathétique, die sich auf alle Höhen und Tiefen der auch im ersten Satz zumeist tristen Stimmung kompromisslos einlässt. Auch nicht die kleinste auskomponierte Gefühlsschwankung geht bei dieser Herangehensweise an eine Sinfonie unter, deren unterschiedliche Auslegungsvarianten in zahlreichen Aufnahmen belegt sind. Keine der heute erhältlichen Aufnahmen, nicht einmal die vorzüglichen Aufnahmen mit Mengelberg, Kussevizki, Toscanini, Furtwängler und Mrawinski besitzt die enorme Aussagekraft der Interpretation durch Teodor Currenzis, die an sich Widersprüchliches, wie Wildheit und Zartheit, sowie Freude und Trauer, daraus bislang unerhörte Spannung erzeugend, wie das Selbstverständlichste auf der Welt vereinigt.
Die Aufnahmetechnik trägt der unkonventionellen Herangehensweise des Dirigenten und seines Ensembles an das letzte Werk Tschaikowskis durch Detailreichtum und extreme Dynamik überaus angemessen Rechnung. Die Vorzüge des hochauflösenden Downloads tun ein Übriges, um dieses Album rundum uneingeschränkt empfehlenswert zu machen.
Musicaeterna
Teodor Currentzis, Dirigent