Der in Rochester geborene Jazz-Pianist Vijay Iyer indischer Abstammung kann heutzutage auf nicht weniger als dreiundzwanzig Alben zurückblicken, die er in den letzten zwanzig Jahren in unterschiedlichen Besetzungen aufgenommen hat. Dabei bewegte er sich stilsicher zwischen Funk, Swing, Hard Bop und Avantgarde. All diese Disziplinen lebt er mit Schwerpunkt auf Avantgarde auf seinen neuen Album „Far From Over“ in Sextett-Besetzung aus, für die er neben seiner Leib- und Magen Rhythmusgruppe mit Tyshawn Sorey am Schlagzeug und Stephan Crump am Bass Graham Haynes am Flügelhorn und Kornett, den Altsaxofonisten Steve Lehman den Tenorsaxofonisten Mark Shim, jeder für sich ein Star in der Szene gewinnen konnte.
“Poles”: Hier geht es laut zur Sache. Sehr laut und vor Energie berstend. Saxophon-Kaskaden werden in die Luft geschleudert. Das Piano und dann die Rhodes Keyboards verstehen sich vorrangig als Teil des Schlagzeugs. Kurzzeitig bringt das sonor angestimmte Flügelhorn Ruhe ins raffiniert gesteuerte Chaos. Das fantastische Schlagzeug hält die mühelos ablaufende wilde Hatz souverän zusammen.
„Far From Over“. Ein wahrer Bigband-Sound entwickelt sich nach kurzer rhythmischer Aufforderung durch das Piano. Unruhe ist die Seele des Titels, getrieben von raffinierter Improvisation. Herrliche Soli der Saxofone, vom Flügelhorn und vom Piano würzen den Titel und münden in einen prächtigen Bläserchorus aus. Und: wieder wird es laut. Sehr laut bis zum nicht enden wollend ausklingenden Pianoakkord.
„Nope“. Ruhe. Endlich richtige Ruhe. Gemessen schreiten die Rhodes Keyboards selbstbewusst dahin. Der entspannte Duktus hält vor, auch dann, wenn sich die Bläser Akkorde ausstoßend dazu gesellen. Jetzt wird es lauter. Allerdings zivilisiert. Für die Verhältnisse des in den beiden vorangehenden Titeln sich laut austobenden Sextetts läuft alles bei sehr ziviler Lautstärke, rhythmisch raffiniert gestaltet ab.
“End Of The Tunnel”. In diesem kurzen Titel darf Graham Haynes den Sound seines Flügelhorns mit elektroakustischen Tricks bis zur Unkenntlichkeit verfremden. Kaum verflüchtigt sich der künstlich ausgedünnte Klang im mystischen Urnebel, ist der Spaß auch schon vorbei.
“Down To The Wire”. Bei ziviler Lautstärke lässt sich das Piano auf eine wilde Jagd durch die Skalen des Tasteninstruments ein. Die Lautstärke nimmt beträchtlich zu und erreicht rasch die Schmerzgrenze, wenn das Tenorsaxofon sich der Jagd anschließt. Es geht wilder und immer wilder zu. Schließlich überschlägt sich alles Das Tenorsaxofon schreit auf, was das Altsaxofon und das Flügelhorn (oder ist das das Kornett) motiviert, sich der Jagdgesellschaft anzuschließen bis das Schlagzeug das plötzliche Ende der wilden Jagd mit einem tollen Solo einläutet.
“For Amiri Baraka” startet begleitet von Bass und Schlagzeug völlig entspannt mit ruhigem, vom Piano angestimmten, geradezu konservativ aufgebautem Song. Mitten im Titel wird es unvermeidlich laut bis das Piano den ruhig ausklingenden Titelschluss vorbereitet.
“Into Action”. Nomen est omen. In abgehackt dahinstolpernder Bewegung geht es holterdipolter in ruhigeres Gefilde mit herrlich improvisierter langer, harmonischer (!) Piano/Flügelhorn-Passage. Nach kurzem kräftigen Bläsereinwurf aus vollen Rohr leitet das Piano den Titel in ruhige Gefilde, unterlegt mit sanften, gemessen dahinschreitenden harmonischen Bläserakkorden bis hin zum friedvollen Ausklingen.
„Wake“. Sich im eigenen Echo auflösend vernehmen wir den Weckruf des Kornetts. Eine pastorale Stimmung wie am Königssee stellt sich ein, wenn die Alphörner selbstverliebt ihrem von steilen Berghängen zurückgeworfenen Echo lauschen. Irgendwo im Echonebel schwebt unwirklich der Sound des Pianos. Ziemlich abgefahren.
„Good On The Ground“ bringt das Sextet zurück zu bodenständigem Bigband-Sound. Das kommt wieder laut. Das Schlagzeug sorgt für mächtigen Vortrieb. Hektik wechselt mit ruhiger Gangart. Zu bewundern gibt es einen extrastarken Pianoeinsatz und ein potentes Schlagzeugsolo. Schlagartig kommt der Titel aus voller Sextett-Besetzung heraus schlagartig zum Ende.
“Threnody”. Geradeso als wollte Iyer mit seinen Mannen den vorherrschend wilden, mitunter bizarren Ablauf der bisherigen Titel konterkarieren, startet dieser Titel leise mit ruhig dahinschreitendem Pianogesang. Leise bleibt es freilich nicht. Ganz allmählich erreichen wird den für dieses Album charakteristischen Lautstärkepegel. Das Tenorsaxofon trägt dazu entscheidend bei und das Piano zieht erleichtert nach. Schließlich stimmt der volle Bläserchor ein und bringt den Titel lautstärkemäßig an die Schmerzgrenze. Anstelle eines jähen Abbruchs im Lautstärkemaximum, lässt das Piano, vom Schlagzeug getragen, den Titel in versöhnlicher Ruhe leise ausklingen.
Nach dieser lautstärkemäßen Tour de Force durch die wild zerklüftete Landschaft des Albums empfiehlt sich ein Gang in den Wald, um das Gehör auf null zurückzusetzen. Ansonsten ist von „Far From Over“ kein Schaden zu befürchten. Im Gegenteil. Gibt man sich diesem Album hin, erfährt man eine geschlagene Stunde lang eine ganze Menge über die Leistungsfähigkeit der Jazz-Avantgarde, darüber, dass diese Spielart des Jazz in den Händen improvisationssicherer, mit Fantasie begabter Musiker abwechslungsreich, spannend, ja mitreißend sein kann. „Far from Over“ ist im wahrsten Sinne des Wortes ein starkes Stück Jazz. Möge das Album in dieser Sextett-Besetzung keine Eintagsfliege sein, sondern ECM veranlassen, weitere Alben folgen lassen.
Vijay Iyer, Klavier, Fender Rhodes
Graham Haynes, Cornet, Flügelhorn, Electronics
Steve Lehman, Altsaxophon
Mark Shim, Tenorsaxophon
Stephan Crump, Kontrabass
Tyshawn Sorey, Schlagzeug